Comicreview: Marzi 1

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Originaltitel: Marzi – L’Intégrale 1 – La Pologne vue par les yeux dune enfant
Herausgeber: Panini
Veröffentlicht: 18.06.2012
Künstler: Marzena Sowa, Sylvain Savoia
Art: Hardcover
Seiten: 224
Sprache: deutsch
Preis: 24,95 €
U-Bahnlesetauglichkeit: Das Format ist dafür total super geeignet.
Rating: 4/4kg  frisches Fleisch ohne Anstehen

Kaufbar bei Amazon (Partnerlink) oder direkt bei Panini , mit Onlineleseprobe bei mycomics.

Als Kurzvorderwende-Kind hat man irgendwie das Problem, dass es kaum ansprechende Literatur gibt, mit der man sich so richtig identifizieren kann. sicherlich gibt es Geschichten, die aus der ostdeutschen Sicht über die Wende berichten, aber das alltägliche Leben – darüber wird kaum berichtet. Zumindest dachte ich das, bis ich ein bisschen in “Marzi” stöbern durfte. Die Geschichte handelt von einem kleinen Mädchen gleichen Namens, die in den Jahren ’84-’87 in Polen unter dem kommunistischen Regime aufwächst und soweit eigentlich eine ganz normale Kindheit durchlebt. Nur, dass diese eben geprägt ist von Angst, Armut, Terror und dem Wunsch, etwas zu ändern.
Wie das funktioniert, inwieweit ich mich damit identifizieren konnte und warum man das gelesen haben muss, erfahrt ihr in folgender Review.

Ist das alles eigentlich autobiografisch?

Ja. Die kleine Marzi, so um die 3-6 Jahre alt, existierte wirklich, sind das doch die Geschichten der Marzena Sowa, die sie ihrem Freund Sylvain Savoia erzählte. Dieser fand sie so spannend, interessant und irgendwie auch fremdartig, dass er sie bebildern musste, um sie der Welt zu zeigen. Und das ist wirklich das beste, was man machen konnte. Vor allem ist das alles aus der getrübten Sicht eines kleinen Kindes erzählt, was uns einen ganz besonderen Blick auf verschiedene Umstände des Lebens in Polen kurz vor der Wende gibt.
Das erstaunliche nämlich ist, wie ich nach dem Lesen des Buches feststellte, dass Polen vor der Wende irgendwie auch ein bisschen so ist, wie Ostdeutschland kurz nach der Wende. Weil ich selbst ja Baujahr 1986 bin, habe ich natürlich nur bruchstückhafte Erinnerungen an die Zeit vor der Wende. Klar, da sind Bilder und Begebenheiten, aber wie wahr die wirklich sind, weiß natürlich niemand. Trotzdem änderte sich ja nicht alles von heute auf morgen, vor allem nicht im Herzen Brandenburg. Daher sind die meisten meiner Erinnerungen an den Osten wohl nach der Wende entstanden. Was aber eigentlich gar keinen Unterschied macht.
Jedenfalls erzählt Marzi beispielsweise, wie immer nach Essen angestanden wurde und nie genug für alle da war. Vor allem Fleisch war schnell weg und Dinge, die es gab wurden gehortet. Das kenne ich auch noch. Benzin war ein Luxusgut und wenn man keine Lebensmittelmarken hatte, war man eh am Arsch. Ein schöner Sozialismus ist das, wenn nie genug für alle da ist und das Volk sich nicht wehren kann.
Interessant aber finde ich, dass Marzi auch katholisch ist und ihre Kommunion thematisiert wird. Sie stellt fest, dass sie gar nicht die Verantwortung übernehmen kann, Jesus in ihr Herz zu lassen, was einerseits niedlich ist, auf der anderen Seite aber auch ein bisschen kritisch.

 

Und wie hoch ist da der Lernfaktor?

Seien wir ehrlich: Es gibt Vorurteile über die Polen, die ich an dieser Stelle gar nicht aufzählen möchte. Ihr kennt sie und ihr kennt die Witze. Hier aber lernt man sie als ein ebenso leidendes Volk kennen, wie alle anderen, die unter der Trennung Europas und dem großen Bruders litten. Man empfindet Sympathie und fragt sich, wie sowas überhaupt möglich sein konnte, warum das offenbar nötig war. Es ist traurig, aber durch die Dummheiten, die Marzi mitunter anstellt und auch durch die kleinen Anekdoten aus ihrem Leben, die so überall hätten stattfinden können, mitunter auch zum Lachen komisch. Wenn man das Buch, wie ich, in einem Zug durchliest (weil es so toll ist), kommt das der bekannten Gefühlsachterbahn schon sehr nahe. Außerdem lernt man eben nebenbei auch wirklich viel über dieses Volk, ihre Traditionen und Eigenarten und am Ende hat man wirklich das Gefühl, sie besser verstanden zu haben. Nicht wirklich komplett, aber man bekommt eben ein Gefühl dafür, wie sie ticken. Kann man von einem Buch mehr erwarten?

 

Und Optisch?

Ihr seht es schon: Grafisch hält sich das alles in weichen Grau- und Brauntönen, die von roten Farbklecksen durchbrochen werden, was total gut die Stimmung der kurzen Geschichten wiederspiegelt. Das Leben im Vorwendepolen ist eben grau, wird aber immer wieder von Sonnenschein und Gelächter durchbrochen. dabei scheinen die Zeichnungen selbst auf den ersten Blick ein bisschen infantil, auf den zweiten und dritten aber ungemein liebevoll, mit schönen Details, clever und großartigen Expressionen auf den Gesichtern.

Fazit: Ich fand mich und teilweise meine eigene Kindheit in diesem Buch wieder, denn offenbar war Brandenburg Anfang der 90er wirklich wie Polen Ende der 80er. Die Geschichten kenne ich, die Gefühle, die Verwirrung und was ich nicht kannte, brachte mich zum Staunen. Es ist ein tolles Buch, das so auch zwingend im Grundschulunterricht behandelt werden muss. Schließlich sind die Polen unsere Nachbarn, über die wir offenbar kaum etwas wissen.

Disclaimer: Vielen Dank an Panini für das Rezensionsexemplar.

4 Comments

Michael · 26. Juni 2012 at 17:59

Mein Bester … das ist eine prima Rezension, das Buch ist sicher auch ganz toll, die Parallelen, die du da aber zur ausklingenden Ex-DDR siehst würde ich gern eher in die derzeit recht angesagte Schublade “alternative Geschichtsschreibung” packen. Ich bin ja nun leider Gottes Jahrgang ’77, hab jetzt auch nicht sooooo viel mitgekriegt aber wohl ein wenig mehr, wohnte auch im Zonenrandgebiet, also einer Gegend, die jetzt nicht so mit Gütern überschüttet wurde, aber:
– ich war ein Arbeiterkind, und wir waren nicht arm. In der Tat waren alle sehr reich damals, denn es bekamen fast alle das gleiche Geld, und wirklichen Luxus (abgesehen von einer Schrankwand und dem Colorette-Farbfernseher) gab es nicht, für den man den Zaster hätte ausgeben können.
– wir haben NIE für normales Essen anstehen müssen und es war IMMER genug für alle da. Es gab bestimmte Sachen nicht – die obligatorischen Südfrüchte waren rar und meist nur im Delikat als Konserven zu haben, aber die beiden Konsum-Märkte im Neubaugebiet waren immer voll, es gab wann immer wir wollten Fleisch, und meine Mutter hatte nie Mühe, Essen auf den Tisch zu bekommen oder zu Weihnachten einen vollen Gabentisch.

… hätte diesen Kommentar nicht geschrieben, wenn du wenigstens ehrlich und in bester Rainald-Grebe-Manier angeführt hättest, dass sich an der Mangelwirtschaft in Brandenburg auch seit der Wende nix geändert hat. “Nimm Dir Essen mit, wir fahr’n nach Brandenburg. “

Marco · 29. Juni 2012 at 19:31

@Michael: Wie gesagt, das war alles gefärbt vom kindlichen Schleier und ich hab keinen Anspruch auf Allgemeingültigkeit erhoben. Was ich aber noch weiß ist, dass es in den Läden eben nicht alles gab, Obst und Gemüse nur saisonal zur Verfügung standen und man eben kochen musste, was man bekam. Sicherlich haben wir nicht gehungert, aber wenn wir Lust auf Hühnchen hatten, mussten wir eben warten, bis es welches gab. Ich wollte dich mit dem Artikel ja auch nicht persönlich angreifen 😉

Michael · 29. Juni 2012 at 20:07

Bei uns hatte es immer Hühnchen. Goldbroiler im Tiefkühlbereich. Sehr lecker. Brandenburg hat und hatte es wohl nie leicht … ZURECHT! Harharhar … *im OFF verhallend*

Marco · 2. Juli 2012 at 21:22

@Michael: Dafür haben wir schöne Nadelbaumwälder 😛

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